UNIVERSITÄT OSNABRÜCK

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Aufbruch in die Emanzipation (1969-1982)

Die Entschärfung des §175 im Zuge der Strafrechtsreform 1969 zeitigte direkte und indirekte Wirkungen. Zum einen bedeutete dies, dass männliche Homosexualität nicht mehr per se strafbar war. Dies wirkte befreiend, vor allem wenn man bedenkt, dass die bis dahin bestehende nationalsozialistische Fassung von §175 nicht allein den Geschlechtsakt zwischen zwei Männern unter Strafe stellte, sondern entworfen war, um jedes der männlichen Homosexualität verdächtige Verhalten zu unterbinden. Es entstand schnell und von Berlin ausgehend eine neue schwule Publikationskultur und in vielen Städten ab Anfang der 1970er Jahre Coming-Out Gruppen. Da die gesellschaftlichen Stigmen von der Strafrechtsentschärfung aber unberührt blieben und es hierbei um sehr private Dinge ging, blieben diese Gruppen lange versteckt.

Orte der Homosexualität im Osnabrücker Stadtraum 1969-82 (visualisierte Forschungsdaten VHM)

Die wichtigste indirekte Wirkung der Entschärfung des §175 war also die Ermöglichung, homosexuelles Leben auch kollektiv zu gestalten. Wie dies aber geschehen solle und könne, war eine offene Frage. Es entstand eine Suche und mit ihr oft öffentliche Initiativen, wie in Osnabrück ab 1973 die Vorläufer der AHO. Der erste CSD in Deutschland fand 1972 in Münster und damit in der unmittelbaren Nachbarschaft statt. 

Eine im Osnabrücker Stadtraum sichtbare Folge war, dass sich das versteckte homosexuelle Leben ab Anfang der 1970er Jahre um öffentliche Aktionen erweiterte. Wie an der Karte zu sehen, verteilten sich gegen Ende dieser Phase bis 1982 zahlreiche Orte der Homosexualität im Osnabrücker Stadtraum. Dabei sind auch die informellen Treffpunkte zu erwähnen, also vor allem inoffizielle Sextreffpunkte, die in der Zahl offenkundig zunahmen. Daneben prägt sich aber auch der Aufbruch in eine Emanzipation ab, in der sich Lebensweltliches wie das Kennenlernen und Treffen mit Politischem mischte. Diese zu kartieren ist schwierig, da die konkreten Treffpunkte oft Privatwohnungen waren oder andere Orte, deren Adresse außerhalb der Gruppe Eingeweihter aus Anonymitäts- und Sicherheitsgründen unbekannt blieb. Eine vielsagende Ausnahme stellt dahingehend die Osnabrücker Homosexuelle Aktion (OHA) dar, die Vorläufergruppe der AHO. In einem Schreiben von 1974 gab diese nicht nur eine Privatadresse, sondern auch den Namen der dort wohnenden Person offen als ihre Kontaktadresse an. Der Unterschied hierbei war, dass dies auf einem vertrauensvoll an andere außerstädtische Schwuleninitiativen gerichteten Fragebogen geschah, wohingegen ihre öffentlich zugängliche Schreiben, wie z.B. die Grundsatzerklärung der OHA, die übliche räumliche Anonymität wahrten. 

Besonders wichtig war für diese Gruppen darum ein Postfach (auf der symbolisch Karte bei der Post, Punkt 5, abgebildet). Dies betraf neben der hier benannten AHO und der Frauenhaus-Initiative auch andere Gruppen oder Anlaufstellen wie feministische Rechtsberatungen, in deren Umfeld auch zahlreiche lesbische Frauen sehr aktiv waren. So konnte man auch ohne Bekannte beiderseits anonym und damit gesichert postalisch Kontakt zu diversen Gruppen und emanzipatorischen Initiativen aufnehmen, die sich dann im Privaten trafen. Während Postfächer in späteren Jahren in erster Linie aus praktikablen Gründen betrieben wurden, dienten sie bis in die 1980er Jahre hinein vor allem als eine Art Pufferzone zwischen den Initiativen und der Stadt.

Erste Ankerpunkte

Eine grundlegende Änderung bedeutete hierbei die Eröffnung der Lagerhalle 1976, in der sich schon kurz darauf erste homosexuelle Gruppen in einem sicheren Umfeld treffen konnten. 1979 fand hier mit der "Rosa Flut" eine Veranstaltung statt, aus der später "Gay in May" erwuchs. Diese ist im Rahmen einer entstehenden alternativen Szene in Osnabrück zu verstehen, die auch Raum für autonome Organisationsformen schuf - von offen mit dem Angebot an homosexueller Literatur werbenden Autonomiebuchladen über feministische Kreise bis zum 1978 gegründeten Stadtblatt. Durch an dieses gerichtete Berichte und Meldungen versuchten homosexuelle Aktivist*innen die als konservativ empfundene Berichterstattung der NOZ zu umgehen.

Dazu kamen in diesen Jahren erste Szenekneipen. Eine langlebige Institution war hierbei das "Gentlemen's". Am Wechsel seiner Adressen aus den Wohnvierteln in den innerstädtischen Ring hinein und des Namens zu "Bei Theo" ab 1990 zeigt sich, wie homosexuelle Kneipen in die Stadt hineinwuchsen, weniger anonym und schon in den Straßen sichtbarer wurden. In den 1970er Jahren hingegen waren solche Orte anders codiert. Sie waren oft kurzlebig, von außen blickgeschützt und besaßen teilweise eine Einlasskontrolle oder ein kontrolliertes Mitgliedersystem. Dies war schon deswegen geboten, da diese mehr oder weniger formellen Orte von der Anonymität lebten. Hier trafen sich auch viele homosexuelle Menschen, die sich aus privaten oder anderen Gründen kein Coming-Out trauten oder leisten konnten. Zudem wurden diese Gaststätten ebenso wie informelle Orte, also z.B. die Treffpunkte in Parks und an der Raststätte Münsterland, Gegenstand von teilweise erniedrigenden Polizeirazzien und Übergriffen aus der Bevölkerung. Aus den Interviews ist deutlich abzulesen, dass vor allem letztere zunahmen. Sie können jedoch nur unzureichend kartiert werden, da sie selten eine Papierspur hinterließen - sei es, weil sie nicht angezeigt wurden, sei es, weil sei nicht aufgenommen wurden oder sei es, weil die Quellen nicht überdauerten.

Emanzipation und Bedrohung

Von aus Schutzgründen versteckten Treffen zu sich langsam institutionalisierenden Orten formierte sich ab Anfang der 1970er Jahre bis 1982 immer mehr homosexuelles Leben im Osnabrücker Stadtraum. Der in diesen Jahren stattfindende Aufbruch in die Emanzipation schuf erste Formen der Selbstorganisation und wagte mit Gay in May auch zunehmend, dies in der Stadt zu zeigen. Es ist dahingehend aber vielsagend, dass schon bei der ersten "Rosa Flut" 1979 die Lagerhalle mit "Schwule raus!" beschmiert wurde und ein hochgradig beleidigendes Drohschreiben einging. Die Täter wurden nie ermittelt. Das Paradoxe war darum, dass sich homosexuelles Leben dadurch zu veralltäglichen versuchte, indem es Sichtbarkeit in gerade jenem Stadtraum Osnabrück erkämpfte, aus dessen Anonymität heraus Angriffe erfolgten. So blieb homosexuelles Leben in Osnabrück jenseits der Privaträume bedroht und darum fragil, sei es durch starken Weg- und Zuzug, sei es durch ungewolltes Offenbaren und Bloßstellen, oder sei es durch gezielte und befürchtete Angriffe.

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