UNIVERSITÄT OSNABRÜCK

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Aufmerksamkeit für §175

Auch in Osnabrück waren die 1980er Jahre von einer Renaissance konservativer politischer Konzepte und Vorstellungen gekennzeichnet. 1981 übernahm die CDU erstmals seit Kriegsende den Oberbürgermeisterposten. Daneben stand aber das Aufkommen neuer, sich oft als alternativ oder progressiv verstehender, zivilgesellschaftlicher Gruppen und Initiativen. Unter diesen war die historische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in der Stadt eine wichtige Triebkraft. Diese Spannung öffnete den städtischen Diskurs für erhöhte Dissonanz. In dieser Situation bemühten sich vor allem die AHO und andere homosexuelle Gruppen darum, öffentlich die Frage zu stellen, warum sich Osnabrück für die Geschichte des §175 interessiere solle.

Die bestehende Leerstelle

Grundlage hierfür war eine intensivierte Beschäftigung mit dem §175 in schwulen Gruppen, oft getragen von in den 1950er oder 1960er Jahren geborenen Aktivisten. Deren Arbeit war von einer Spannung gekennzeichnet, denn einerseits war klar, dass unter dem §175 Verfolgte zu Zeiten des Nationalsozialismus oder der Bundesrepublik noch in der Region, vielleicht sogar in der Stadt leben mussten. In den Gruppen aber waren diese kaum oder eher gar nicht präsent. So beschreibt Albert Leuck* den Kampf um die Sichtbarkeit in den 1980er Jahren auch als ein generationelles Streben. Zwar kenne er auch damals aktive Ältere, "aber das sind absolute Einzelfälle. Die meisten, wo es offenerer wurde, gehören so zu meiner Generation. [..] Die Älteren kommen wirklich ganz wenig vor. Und damit ja auch diese, diese Erfahrung."(Projektarchiv VHM, Interview P15)

Kurt Mühlenschulte*

Und diesen Schnitt nach '45, den hat es halt für Schwule nicht gegeben.

Sie alle teilten das Leben im Schatten des §175, aber die konkrete Erfahrung eines gegen sie strafrechtlich aktiv werdenden Staates teilten sie nicht. Sie lebten vielmehr in einem Zwischenstadium, in welchem der §175 einerseits der Hintergrund bestehender Repressionen und Stigmatisierungen war und in dem sie zugleich andererseits die Kräfte bündeln konnten, um gegen diesen Bestand zu mobilisieren. So kam es in dieser Generation in Osnabrück zu einem intensivierten Austausch über die historische Bedeutung der strafrechtlichen Verfolgung im Land und vor Ort. Wie Friedrich Kerpen* beschreibt, ging es in diesem Zwischenstadium um historisches Wissen vor dem Hintergrund einer gegenwärtigen Situation. 

"Und auch schon in [dieser] Zeit kam die Auseinandersetzung über den, natürlich über den 175er. Aber auch über die Zeit der homosexuellen Menschen im Dritten Reich. Wurde viel drüber diskutiert, wurde viel drüber gesprochen. Wir haben gesagt, wir wollen verhindern, dass es irgendwie wieder zu solchen Exzessen kommt. Dass Menschen wieder in, in irgendwelche psychiatrischen Anstalten kommen wegen ihrer Homosexualität oder sonst irgendwie diskriminiert werden. Und der 175er war damals schon klar, der, es gab ganz viele, auch bei Plakate, Schilder, wo der 175er durchgestrichen wurde. Und gesagt wird, der muss weg." (P10_Interview, Absatz 20)

Ein komplexes "Markenthema"

Kurt Mühlenschulte* betont, dass dadurch der §175 „lange Zeit wie so ein Markenthema“ gewesen sei. Er habe „andere Themen zu lange verdrängt“, was aber auch „eine Folge des 175“ gewesen sei, da dieser „sowas Handfestes war oder so offensichtlich. Oder wo man eigentlich sagen kann, das steht zwar im Gesetz, aber es widerspricht eigentlich auch dem, dem Gleichberechtigungsgrundsatz des Grundgesetzes“.  Dies habe, so legt Mühlenschulte* dar, eine grundlegende Wirkung auf ihn gehabt. (Projektarchiv VHM, Interview P1) 

Ähnlich sieht dies Albert Leuck*, der die Wirkung des §175 nicht nur bei den Homosexuellen, sondern auch bei den Eltern und damit letztlich bei jedem sieht:

"Also ich hab mich ja auch nicht geschädigt gefühlt, aber auch eben auch nicht unterstützt. Was eben dazu führt, dass man so, ich glaube am ehesten sowas wie damit alleine zu-, alleine zu sein. [...] Das verzögert Entwicklung. Und ich glaube, dass die Generation meiner Eltern auf jeden Fall sehr infiltriert, sehr infiltriert war davon. Also sozusagen wie davon gesellschaftlich so ausgebremst zu sein in der eigenen Entwicklung. Ein bisschen, ich würde mal sagen, fahren, fahren mit angezogener Handbremse, ohne dass man überhaupt weiß, das die Handbremse angezogen ist, ne." (Projektarchiv VHM, Interview P15)

Deutlich zeigt sich hier die Wahrnehmung, dass §175 nicht nur die Selbstfindungsprozesse von Homosexuellen erschwerte, sondern dass er als eine unreflektiert bestehende Norm gesamtgesellschaftlich Bewusstsein prägte. Lange Zeit sei er jedoch nicht mit dem §175 in Berührung gekommen. 

Indem sich aus der Friedens- und Umweltbewegung die Grüne Partei entwickelte und diese auch im Osnabrücker alternativen Milieu Fuß fasste, formalisierten sich auch die bereits in den 1970er Jahren sichtbaren Überschneidungen zwischen alternativer und schwuler Bewegung. So erhielt die Osnabrücker Schwulenbewegung zu Teilen einen grünen Anstrich, der sich dann auch auf das Tätigkeitsspektrum auswirkte. So berichtet Kurt Mühlenschulte*, dass niemand in seinem direkten Umfeld vom §175 betroffen gewesen sei. Seine Berührung sei politischer Art gewesen.

Und mein Kontakt neben dem, was man darüber wusste oder dazu Veranstaltungen gemacht hat, tatsächlich auch über die Grünen. Das die Grünen gesagt haben, wir haben ein Anschreiben von jemanden aus Knast bekommen, der wegen 175 drinsitzt und kannst du da dich mal drum kümmern. Und dann bin ich da tatsächlich im Gefängnis gewesen und habe den besucht und da versucht Hilfestellung zu geben. (...) Und das war für mich eigentlich der einzige Kontakt zu jemandem, der wegen 175 verurteilt war. (Projektarchiv VHM, Interview P1)

Eine Folge dieser Nähe zu den Grünen und der alternativen Bewegung war, dass die schwule Befreiungsbewegung die Aufmerksamkeitspraktiken übernahm, allem voran der Fokus auf einen konkreten Gegenstand zur Kritik größerer Missstände und der verfremdenden Aneignung von repressiven Symbolen. 

Flyer AHO, frühe 1980er Jahre (Projektarchiv VHM, AHO/PT1)

Eine besonders demonstrative Maßnahme war das Tragen eines Rosa Winkels im öffentlichen Raum. Aufgrund des Fortbestands des §175, so Kurt Mühlenschulte*, sagt man sich damals "eigentlich haben wir immer noch den rosa Winkel. Und jetzt drehen wir das nur um und kriegen den nicht dran geheftet, sondern wir heften den uns selbst dran und machen das dadurch deutlich." (Projektarchiv VHM, Interview P1) Besonders eindrücklich sichtbar wird diese verfremdende Aneignung in einem Flyer der AHO. Dieser kombinierte auf pinkem Papier gedruckt einerseits das humorvolle Logo der AHO, eine stark geschminkte männliche Meerjungfrau mit Nerz, Schampus, sowie zwei nach Bedarf füllbare Sprechblasen, mit einem Rosa Winkel, über dem in dicken Lettern das schlichte Statement "schwul" prangt (Projektarchiv VHM, AHO/PT1, Schon gewußt?...). Diese durchaus provokante Kombination strebte nach Aufmerksamkeit, kann allerdings nicht allein auf diesen Effekt reduziert werden. Denn das Erkennen des provokanten Wertes dieser Darstellung setzt zuallererst Wissen um den Rosa Winkel voraus, wofür die AHO und bundesweit viele andere schwule Initiativen ja erst kämpften. Der Flyer ist dahingehend auch als ein Versuch zu verstehen, sich mit einfachen Mitteln die homosexuelle Geschichte anzueignen und eine eigene narrative und symbolische Darstellung zu entwickeln. Es ging damit auch um die Betonung einer historische Kontinuität von beidem - Ausgrenzung und Stolz.

Suche nach Öffentlichkeit

So wurde das „Markenthema“ immer stärker zum Identitätsmarker. Dabei verlieh ein zuerst szeneintern entstehendes historisches Bewusstsein dem Emanzipationsstreben Legitimität und eine aussagestarke Symbolik. Die historische Beschäftigung war jedoch noch lange nicht so weit, die bundesdeutsche Verfolgungsgeschichte selbst zu historisieren. Sie wurde als Kontinuität wahrgenommen, es fehlten jedoch (letztlich bis heute und zu diesem Projekt) die Ansatzpunkte, dies auch konkret und komplex zu thematisieren. Als historische Folie diente primär die Verfolgung Homosexueller durch den Nationalsozialismus, von welcher die Öffentlichkeit in den 1980er Jahren nichts hören wollte.

Ein wichtiger Schritt über die Szeneöffentlichkeit und Aufklärungsveranstaltungen für Interessierte in der Lagerhalle hinauszugehen, ergab sich im Jahr 1983. Ende 1982 erstellte die AHO einen Flyer für ihre Mitglieder. Darin rief sie auf, die sich 1983 zum 50. Mal jährende Bücherverbrennung als Aktionsfläche zu nutzen, um auf die Geschichte der Schwulenverfolgung und die andauernde Existenz des §175 hinzuweisen. Da damals auch „‘unsere‘ Bücher“ verbrannt worden wären, „und Schwule ins Exil gegangen worden sind und nicht nur dahin“, rief die AHO auf, die von den „herrschenden Kulturinstitutionen (Uni bis Theater)“ geplanten ‚Woche der verbrannten Bücher‘ auch als Plattform für die eigenen Belange zu verstehen: „Bereitet euch vor, dies in unserem Interesse zu nutzen. Denkt und handelt mal ein bißchen langfristiger. […] Werdet an eurem Ort selbst aktiv!!“ (Projektarchiv VHM, AHO/PT1, Aufruf!, 198[2]) Um Jörg Pauly fand sich in der AHO in der Tat eine Gruppe, die Quellen sammelte und eine Informationsheft zusammenstellte, die in den Auflage von 500 Stück gedruckt wurde. Stilistisch ähnelte es den Heften, die in ganz Deutschland ab Anfang der 1980er Jahre jene Initiativen erstellten, die die lokale Judenverfolgung dokumentieren und ins öffentliche Bewusstsein bringen wollten. (Jörg Pauly und Aktionsgruppe Homosexualität, Für Zucht und Sitte: Die Verfolgung der Homosexuellen im III. Reich (Osnabrück: Aktionsgruppe Homosexualität Osnabrück, 1983).)

Titelbild der Broschüre von Jörg Pauly/AHO 1983

Im Frühjahr 1983 gelang es der AHO dann tatsächlich – anders noch als bei der Sachbuchverleihung 1980 – ohne große Widerstände auf einer entsprechenden Erinnerungsveranstaltungen öffentlich präsent zu sein und dort sogar Rederecht zu erhalten. Der Erfolg wurde allerdings durch interne Querelen geschmälert, sodass die Druckkosten für das Heft bei ohnehin schon prekärer Kassenlage die schwulen Kulturtage des nächsten Jahres gefährdeten (Projektarchiv VHM, AHO/PT1, Chronik der Aktionsgruppe Homosexualität Osnabrück, besonders des letzten Jahres [1984].) Nichtsdestotrotz war ein erster wichtiger Schritt hin zu einer lokalhistorischen Annäherung an die Geschichte der Schwulenverfolgung in Osnabrück geschehen.

Hier erwies sich in den Folgejahren insbesondere Gay in May als ein zentraler Ort, bei dem für solche Themen Raum geschaffen wurde.

Eine Befragung 1988

Einige Aktivisten gingen 1988 einen Schritt weiter. Mit Kassettenrekorder und Mikrophon ausgestattet, stoppten sie in der Kamp-Promenade im Herzen der Osnabrücker Shopping-Meile bummelnde Passanten, „um herauszufinden, wie hoch der Bekanntheitsgrad des Paragraphen [175] in der Bevölkerung ist“. (Projektarchiv VHM, Tonbandaufnahme 1988)

Straßeninterviews 1988

Ich bin ja auch schon mal sechzehn gewesen, nech?

Später organisierten sie auch eine Veranstaltung zu dieser Aktion. Kurt Mühlenschulte* erinnert sich daran: „War natürlich damals wahnsinnig mutig, sich mit so einem Gerät in die Fußgängerzone zu stellen und danach zu fragen. Ob die Leute das kennen, was sie davon halten.“ (Projektarchiv VHM, Interview P1) Auf die kurze Frage „Kennen Sie den Paragraphen 175?“ erhielten sie eine Vielfalt an Antworten. Die meisten entledigten sich des unliebigen Themas mit kurzen Sätzen wie „Was soll ich dazu sagen? Kein Kommentar“, „Ne, ne. Nichts mit zu tun.“, oder „Ach, das ist mir scheißegal, das soll jeder machen wie er für richtig hält.“ 

Teilweise entwickelte sich auf Nachfrage der Passanten ein Gespräch, wobei die Interviewenden selbst vom „Schwulen-Paragraphen“ sprachen. Unter diesem Schlagwort war er mehreren Personen ein Begriff und teilweise entwickelten sich Gespräche über die Altersgrenze. Dabei wird deutlich, dass eine Mehrzahl der Passanten die Ungleichbehandlung ungerecht fanden, wobei sich abzeichnet, dass meist 18 Jahre bei jungen Männern als zu hoch und die 14 Jahre bei Mädchen als zu jung empfunden wurden. Ähnlich argumentierten einige, dass der Paragraph weg solle, weil es gebe ja auch „Lesben und solche Sachen alle“. 

Straßeninterviews 1988

Beibehalten, aus einfach... Aus Jugendschutzgründen.

Andere Reaktionen waren jedoch feindlich bis angegriffen. So fragt einer der Passanten anfangs noch nach, um was es bei §175 denn ginge. Er unterbricht den Interviewer aber in dem Moment, als dieser kurz zur Erklärung ansetzt und dabei das Wort „homosexuell“ benutzt: 

B: „Ah, das ist eine Zumutung, was Sie hier erzählen, wissen Sie? Das ist allerhand.

I: Ja, warum denn?

B: Na, ich hatte, na, na bis jetzt in meinem Leben noch nie damit was zu tun gehabt.

I: Würden Sie sich da so mit beschäftigen, inhaltlich? Oder haben Sie da eine Meinung zu, dass es diese gesetzlichen Unterschiede gibt? Dass Homosexuelle diskriminiert werden?

B: Na, also ich bin gegen diese ganzen Sachen. 

Straßeninterviews 1988

Nee! Da halt ich nichts von. Von den Leuten halt ich nichts.

Die Antworten konnten sehr patzig werden und gipfeln in einer impliziten Drohung. Denn ein Mann fragte zurück, ob die Fragenden denn den Paragraphen auch kennen würden. Als diese natürlich bejahten sagte er scharf: „Das ist ja prima. Vergessen Sie ihn mal nicht.“ 

Die Kassette endet mit dem Eingreifen eines Wachmanns. Das Resultat dieser Aktion war nicht nur eine wunderbare Momentaufnahme Osnabrücker Befindlichkeiten, sondern, einem Gespräch mit einem der damaligen Aktiven zufolge, auch ein Hausverbot in den Kamp-Promenaden, welches, wie er lachend anmerkt, offiziell wohl noch heute gelte. (Öffentliche Diskussionsveranstaltung VHM, Lagerhalle Osnabrück 2018)

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